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Gericht gewährt Französin Behindertenrente infolge von Elektrosensibilität
Toulouse. Das Gericht für Streitfälle bei Erwerbsunfähigkeit (TCI) hat den Anspruch einer 39-jährigen Französin auf eine Behindertenrente aufgrund von Elektrosensibilität anerkannt. Die Klägerin Marine Richard leidet unter Hypersensibilität gegenüber elektromagnetischer Strahlung. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Beschreibung des Krankheitsbildes unwiderlegbar ist. Das Urteil setzt die Erwerbsunfähigkeit der Klägerin auf 85 Prozent fest. Marine Richard erhält zwei Jahre staatliche „Unterstützung für behinderte Erwachsene“. Diese kann je nach Entwicklung ihrer medizinischen Situation verlängert werden.
Gericht sieht keine Simulation der Symptome
Der medizinische Gerichtsexperte Dr. Pierre Biboulet stellt in seiner Diagnose einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Behinderung der Klägerin und dem Vorhandensein elektromagnetischer Belastung fest. Frau Richards Symptome verschwinden, wenn sie sich von der Strahlung isoliert. Dies erfordert eine Lebensweise, der heutzutage sehr viel Selbstverständliches geopfert werden muss. Deswegen betrachtet das Gericht die Annahme einer Simulation der Symptome als gegenstandslos. Marine Richard beschreibt als Hauptsymptom unter Strahlung „extrem heftige Kopfschmerzen; diese können bis zu der Empfindung einer Bohrmaschine gehen, die sich das Gehirn durchbohrt, oder derjenigen eines Schraubstocks, der den Schädel zermalmt. Es sind unerträgliche Schmerzen, die sich dann auch dem Rückgrat entlang ausbreiten. Man hat den Eindruck, dass der Kopf gleich explodieren wird. Dazu kommen Herzprobleme und neurologische Symptome, die die Konzentration beeinträchtigen. Diese Symptome verschwinden, sobald man vor Strahlung geschützt ist.“
Diagnose des medizinischen Gerichtsexperten widerspricht WHO-Untersuchung
Die Diagnose von Dr. Pierre Biboulet widerspricht dem Ergebnis eines Forschungsprojekts für elektromagnetische Strahlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahre 2005 (Faktenblatt Nr. 296). Der international bekannte wissenschaftliche Vertreter der Elektrizitäts- und Mobilfunkindustrie Michael Repacholi leitete das Projekt. Darin wird behauptet, dass Elektrosensibilität eine psychologisch oder psychiatrisch zu behandelnde Erscheinung ist. Elektrosensible Personen entwickeln ihre Symptome laut der Untersuchung aufgrund einer entsprechenden Erwartung, die aus psychologischen Ursachen resultiert. Dieser sogenannte „Nocebo-Effekt“ bewirkt im Gegenteil zum Placebo-Effekt eine negative Reaktion. Der Nocebo-Effekt existiert zwar in der Medizin. Er konnte bei Elektrosensibilität jedoch nur mangelhaft in wissenschaftlichen Tests nachgewiesen werden. Von diesem Krankheitsbild betroffene Personen haben millionenfach ihre Erfahrungen geschildert. Darin berichten sie, dass sie zuerst die Symptome wahrnehmen, bevor sie die Ursache entdecken. Eine pauschale Annahme des Nocebo-Effekts ist nicht aufrechtzuerhalten.
Marine Richard bezeichnet das Urteil als Durchbruch
Die Klägerin Marine Richard arbeitete früher als Dramaturgin und Regisseurin von Radio-Dokumentarsendungen in Marseille. Sie leidet seit dem Jahr 2010 unter den Symptomen der Elektrosensibilität. Zwei Jahre später zog sich Richard in die Pyrenäen der Ariège nach Südwestfrankreich zurück. Dort lebt sie in einer speziell für sie eingerichteten alten Scheune. Es gibt Quellwasser und im Winter zwei Meter Schnee. Strom oder einen Straßenanschluss findet man dort nicht. Marine Richard sieht sich selber als Umweltflüchtling. Das Gerichtsurteil sei nicht nur für sie persönlich bedeutsam, sondern auch ein erfreulicher Durchbruch im Bereich dieser speziellen Rechtslage. Das bestätigt auch ihre Rechtsanwältin Alice Terrasse. Sie sieht das Urteil von Toulouse als französische Premiere, die zum Präzedenzfall werden könnte. Tausende Betroffene hätten bisher kein Gericht angerufen. Die Anwältin nennt als Grund dafür die Isolation. Menschen, die unter den Symptomen der Elektrosensibilität leiden, unterhalten kaum mehr Kontakte zur Außenwelt. Sie scheuen komplizierte Unternehmungen wie Gerichtsprozesse.
Strahlungsfreie Reservate als Übergangslösung
Marine Richard gefällt der Gedanke an Reservate für Elektrosensible nur bedingt, da diese bereits wegen ihrer Sensibilität aus dem sozialen Gefüge herausfallen. Allein in Frankreich gebe es Tausende, die in der heutigen verstrahlten Umgebung nicht mehr wissen, wo sie hingehen sollen. Kurzfristig sieht sie jedoch keine Alternative dazu, dass der Staat Gebiete schafft, die von elektromagnetischen Feldern und Strahlungen geschützt sind. Die von diesem Krankheitsbild betroffenen Menschen können dort wieder ein normales Leben führen, solange sich im Bereich der Strahlenverschmutzung nicht grundsätzlich etwas ändert. Es sei jedoch Sache der Politik die Mobilfunkbetreiber in die Pflicht zu nehmen. Nur so kann die Strahlenbelastung deutlich gesenkt werden.
Bücher von Marine Richard
Marine Richard hat bereits zwei Bücher über das Thema geschrieben. „Sous l’ondée – survivre en étant électrohypersensible“ (Éditions Inadvertance, 2012) hat sie noch in Marseille verfasst. Darin führt sie dem Leser eindringlich und berührend ihren damaligen Überlebenskampf im strahlungsüberfluteten Alltag vor Augen. Das zweite Buch verfasste sie nach ihrem Rückzug in die Berge. „Sans mobile“ (Le Square éditeur, 2015) ist die fiktive, abenteuerliche Geschichte eines elektrosensiblen Paares, das alles unternimmt, um sein Kind vor den Strahlenbelastungen zu schützen.